Eine Nachricht sorgte wieder einmal für Unruhe: Das Bundesverfassungsgericht habe sich mit der Bereichsausnahme oder gar dem Privileg der Hilfsorganisationen beschäftigt. Ist das so richtig? Nicht wirklich. Richtig ist zunächst: Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat im März eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Dafür hatte es nachvollziehbare Gründe.

BVerfG, Beschluss vom 30. März 2020 – 1 BvR 843/18

Kurzfassung

Das Bundesverfassungsgericht beschäftigte sich im März 2020 mit einer Verfassungsbeschwerde betreffend das Rettungsdienstgesetz des Landes Sachsen-Anhalt (RettDG LSA). Die Verfassungsbeschwerde erhoben hatte ein privates Rettungsdienstunternehmen. Dieses wandte sich gegen eine vermeintliche Vorrangstellung der Hilfsorganisationen. Jedoch nahm das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an.

Einige wesentliche Eckpunkte der Entscheidung:

  • Das Bundesverfassungsgericht hat den Vorrang der Hilfsorganisationen weder bestätigt noch abgelehnt.
  • Der private Unternehmer solle sich zunächst um die Konzession bemühen und ggf. fachgerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen.
  • Der Beschwerdeführer habe dazu zunächst alle anderen zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten gegen eine für ihn negative Auswahlentscheidung zu ergreifen. Bei Erteilung einer rettungsdienstlichen Konzession sei damit verwaltungsgerichtlicher oder vergaberechtlicher Rechtsschutz vor den Vergabekammern bzw. vor den Verwaltungsgerichten als primäre Fachinstanzen in Anspruch zu nehmen.
  • Eine Ausnahme bestünde dann, wenn es die sich unmittelbar aus der Verfassung ergebenden Grenzen für die Auslegung der Normen betrifft. Dann könne der Beschwerdeführer spezifisch verfassungsrechtliche Fragen unmittelbar gegen ein Gesetz weithin auch ohne vorherige Anrufung der Fachgerichte beim Verfassungsgericht prüfen lassen.
  • Tatsächlich gestattet das Rettungsdienstgesetz in Sachsen-Anhalt auch privaten Unternehmen weiterhin die Beteiligung am Rettungsdienst, Rn. 14. Im Auswahlverfahren haben Private Anspruch auf Durchführung eines chancengleichen Verfahrens, Rn. 15.
  • In diesem Verfahren könnten die Fachgerichte zudem über die Auslegung der „Gemeinnützigkeit“ entscheiden, Rn. 13. Der Rückgriff auf das Abgabenrecht sei bei der Auslegung des Begriffs zumindest nicht zwingend. Insoweit könnten die Fachgerichte auch darüber befinden, ob Hilfsorganisationen gemeinnützig sind, Rn. 17.

Sachverhalt

Träger des Rettungsdienstes in Sachsen-Anhalt sind die Landkreise und kreisfreien Städte. Diese versorgen die Bevölkerung mit Leistungen der Notfallrettung  und der qualifizierten Patientenbeförderung. Die Patientenbeförderung entspricht dabei dem qualifizierten Krankentransport anderer Bundesländer.

Die Träger des Rettungsdienstes erteilen, wenn sie den Rettungsdienst nicht selbst durchführen, zeitlich befristete Genehmigungen als Konzessionen an andere Leistungserbringer (Dienstleistungskonzession).

Durch § 1 Ziff. 5 b) aa) des Gesetzes zur Änderung des Rettungsdienstgesetzes des Landes Sachsen-Anhalt vom 26. Oktober 2017 wurde ein Vorrang gemeinnütziger Organisationen vorgesehen. Genehmigungen sollen demnach gemeinnützigen Organisationen erteilt werden, die im Katastrophenschutz mitwirken.

Nach dem Katastrophenschutzgesetz in Sachsen-Anhalt wirken private Organisationen am Katastrophenschutz mit, wenn sie sich gegenüber der Katastrophenschutzbehörde hierzu bereit erklärt haben und die Katastrophenschutzbehörde der Mitwirkung der von ihnen aufgestellten Einheiten und Einrichtungen zugestimmt hat. Ein Anspruch auf Zustimmung besteht nicht. Als für die Mitwirkung geeignet gelten insbesondere der Arbeiter-Samariter-Bund, die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft, das Deutsche Rote Kreuz, die Johanniter-Unfall-Hilfe und der Malteser-Hilfsdienst.

Der Gesetzgeber berief sich bei der Begründung zu dieser Gesetzesänderung auf Änderungen im Vergaberecht und die Bereichsausnahme nach § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB. Ohne die strengen Anforderungen des Vergaberechts können Rettungsdienstleistungen nur von „gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen“ erbracht werden. Der Vorrang für die namentlich benannten Hilfsorganisationen sei aufgrund der besonderen Verdienste der Hilfsorganisationen bei der Verwirklichung des Gemeinwohls im sozialen Bereich sowie ihrer Mitwirkung im Katastrophenschutz gefallen. 

Die Begründung ist abgedruckt unter Landtag von Sachsen-Anhalt, Drucksache 7/1008, S. 3 ff. und 18 ff.

Verfassungsbeschwerde

Unmittelbar gegen § 1 Ziff. 5 b) aa) des Gesetzes zur Änderung des Rettungsdienstgesetzes des Landes Sachsen-Anhalt vom 26. Oktober 2017 wendete sich eine Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht. Geklagt hatte ein privater, bereits im Rettungsdienst in Sachsen-Anhalt etablierter Unternehmer. Doch das Bundesverfassungsgericht hat dessen Verfassungsbeschwerde durch Beschluss vom 30. März 2020 – 1 BvR 843/18 – nicht zur Entscheidung angenommen. Warum nicht?

Entscheidung zum RettDG LSA

Die Verfassungsbeschwerde genügt nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht dem Grundsatz der Subsidiarität. Das klingt wahrlich sehr juristisch, ist aber nicht so kompliziert wie es klingt.

Grundsatz der Subsidiarität

Das Bundesverfassungsgericht ist kein Gericht, das man willkürlich um Entscheidung bitten kann.

Bevor jemand  eine Verfassungsbeschwerde gegen einen Rechtssatz erhebt, soll dieser möglichst alle anderen, zumutbaren Mittel ergreifen, um der geltend gemachten Grundrechtsverletzung abzuhelfen. Es sind also „grundsätzlich alle zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten zu ergreifen, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern„, BVerfGE Rn. 9.

Das Bundesverfassungsgericht war im vorliegenden Fall der Auffassung, dass der private Unternehmer zunächst eine Genehmigung als Rettungsdienstkonzession hätte beantragen sollen. Dabei erkannte das Bundesverfassungsgericht die Lage auch nicht als aussichtslos. Im Gegenteil.

Dass die tatsächliche und einfachrechtliche Lage gesichert, verwaltungsgerichtlicher oder vergaberechtlicher Rechtsschutz offensichtlich sinn- und aussichtslos ist und allein verfassungsrechtliche Fragen zu klären sind, ist nicht erkennbar. Eine vorherige fachgerichtliche Klärung der Sach- und Rechtslage ist daher erforderlich.“ BVerfGE Rn. 12.

So hätten private Unternehmer in Sachsen-Anhalt durchaus Chancen in einem Auswahlverfahren zum Zug zu kommen. Denn es könnten gewichtige Gründe – beispielsweise die langjährige zuverlässige Beteiligung im Rettungsdienst – bei der Auswahl durchaus Berücksichtigung finden. Unabhängig davon, ob das Vergaberecht Anwendung finde oder nicht, müssten die Rettungsdienstträger die gesetzlichen Vorgaben und damit auch die Chancengleichheit im Auswahlverfahren berücksichtigen. Willkürliche Entscheidungen sind unrechtmäßig.

Hilfsorganisationen seien auch nicht automatisch im Vorteil, da grundsätzlich auch anderen Organisationen die Möglichkeit der Teilnahme am Katastrophenschutz offen stünde.

Zu klären sei zudem, ob die Hilfsorganisationen tatsächlich gemeinnützige Organisationen im Sinne der EuGH-Rechtsprechung sind. Diese Frage sei im Auswahlverfahren zu klären. Denn die Anerkennung einer Organisation nach dem nationalen Zivil- und Katastrophenschutzrecht genüge nicht, um sie automatisch als gemeinnützige Organisation oder Vereinigung im Sinne der Bereichsausnahme des Europäischen Vergabe- und Konzessionsvergaberechts einzustufen.

Was ist zu tun?

Sowohl Rettungsdienstträger, Hilfsorganisationen als auch private Unternehmen sind gut beraten, stets im Einzelfall das optimale Vorgehen zu prüfen. Dabei sollten Rettungsdienstträger ihren Fokus auf einen möglichst leistungsfähigen, bedarfsgerechten und wirtschaftlichen Rettungsdienst und Katastrophenschutz setzen. Dabei können sowohl Kommunalisierung, Bereichsausnahme, aber auch Privatisierung und freier Wettbewerb auf dem Weg zu einer optimalen Lösung dienlich sein sein. Keinesfalls darf man sich von Vorurteilen und allzu pauschalen Argumenten leiten lassen. Eine müssen sich auch die Frage gestatten lassen, ob die enge Verzahnung von Rettungsdienst und Katastrophenschutz tatsächlich erforderlich ist.

Hilfsorganisationen dürfen nicht ausschließlich auf die Bereichsausnahme vertrauen. Sie sollten ihren Rettungsdienst wettbewerbsfähig gestalten und müssen sich auf eine veränderte (Rechts-) Realität einstellen. 

Privaten Unternehmen haben weiterhin Chancen auf Teilnahme am Rettungsdienst. Als Unternehmer sollten sie aber auch anderen Geschäftsfeldern offen sein.


Zur Klarstellung: Wir haben die Beschwerdeführer in dem vorliegenden Fall nicht vertreten.

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