Das OLG Celle (Niedersachsen) entscheidet in seinem Beschluss vom 3. Januar 2024 – 13 Verg 6/23 über den Nachprüfungsantrag eines gewerblichen Rettungsdienstunternehmens gegen die Direktvergabe von Rettungsdienstleistungen an gemeinnützige Organisationen.

Zu den gesetzlichen Vorgaben im Rettungsdienst in Niedersachsen: rettungsdienstgesetz.de

Amtliche Leitsätze

  1. Die Bereichsausnahme des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB lässt sich im 2. Halbsatz richtlinienkonform auslegen, sodass die Anforderungen gewahrt sind, die im Urteil des EuGH vom 21. März 2019 – C-465/17 (Falck) im Hinblick auf Art. 10 lit. h der Richtlinie 2014/24/EU (Vergaberichtlinie) gestellt werden.
  2. Die Träger des Rettungsdienstes sind in Niedersachsen landesrechtlich nicht gehindert, von der Bereichsausnahme des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB Gebrauch zu machen (§ 5 Abs. 2 Satz 2 NRettDG).
  3. Die Direktvergabe von Rettungsdienstleistungen durch einen Träger des Rettungsdienstes an gemeinnützige Dienstleister fällt in den Anwendungsbereich der Bereichsausnahme des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB.
  4. Zur hilfsweise beantragten Verweisung eines Verfahrens durch den Vergabesenat auf den Verwaltungsrechtsweg, wenn für den Vergabenachprüfungsantrag aufgrund der Bereichsausnahme des 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB der Rechtsweg zu den Vergabenachprüfungsinstanzen nicht eröffnet ist.

Aus den Gründen

Ein gewerbliches Rettungsdienstunternehmen wandte sich im Wege eines Nachprüfungsverfahrens nach §§ 155 ff. GWB gegen die Vergabe von Rettungsdienstleistungen an zwei gemeinnützige Organisationen. Nach Auffassung der Antragstellerin handelte es sich um eine unzulässige de-facto-Vergabe.

Zur Erläuterung:
Unter einer De-facto-Vergabe versteht der Jurist die direkte Beauftragung eines Unternehmens ohne Durchführung eines förmlichen Vergabeverfahrens. Insbesondere öffentliche Auftraggeber müssen bei der Beauftragung Dritter die Grundsätze des Haushaltsrechts einschließlich des Vergaberechts beachten. So ist z. B. aus Gründen der Transparenz in der Regel eine öffentliche Ausschreibung erforderlich; schließlich sollen möglichst viele Bieter möglichst günstige Preise anbieten und damit im Wettbewerb stehen. Davon kann nur in Ausnahmefällen abgewichen werden. Wer übergangen wurde, kann bei Vergaben oberhalb der Schwellenwerte ein Nachprüfungsverfahren einleiten. Im Erfolgsfall wird die faktische Vergabe verhindert oder die Unwirksamkeit des Vertrages nachträglich festgestellt. Hier ist Eile geboten, da die Fristen sehr kurz sind. Aber auch unterhalb der Schwellenwerte können übergangene Unternehmen die Rechtmäßigkeit des Verfahrens überprüfen lassen.

Mit öffentlich-rechtlicher Vereinbarung über die Übertragung der Durchführung des Rettungsdienstes und des qualifizierten Krankentransports im Landkreis vom 21. Dezember 1993 wurden die gemeinnützigen Organisationen von der Beklagten mit der Durchführung des Rettungsdienstes und des qualifizierten Krankentransports beauftragt. Im Juli 2022 hat der Aufgabenträger die einem Dritten erteilte Genehmigung zur Durchführung des qualifizierten Krankentransports außerhalb des öffentlichen Rettungsdienstes nach § 19 NRettDG wegen Betriebseinstellung widerrufen. Die 5. Fortschreibung des Rettungsdienstbedarfsplanes sah daher eine Erhöhung der Vorhaltung von Notfall- und Krankentransporten vor.

Entscheidung

Das OLG Celle sah den Rechtsweg zu den Vergabenachprüfungsinstanzen als nicht gegeben an. Die Vorschriften des 4. Teils des GWB über die Vergabe von öffentlichen Aufträgen und Konzessionen seien vorliegend nicht anwendbar. Die beanstandete „De-facto-Vergabe“ falle unter die Bereichsausnahme des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB. Ausgenommen vom Anwendungsbereich der einschlägigen Richtlinie seien unter anderem Rettungsdienstleistungen, die von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen erbracht werden und unter die folgenden CPV-Nummern fallen: 75250000-3, 75251000-0, 75251100-1, 75251110-4, 75251120-7, 75252000-7, 75222000-8, 98113100-9 und 85143000-3 – mit Ausnahme des Einsatzes von Krankenwagen zur Patientenbeförderung.

Im vorliegenden Fall würden die Leistungen von gemeinnützigen Organisationen erbracht. Gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen im Sinne dieser Vorschrift seien Organisationen oder Vereinigungen, deren Ziel die Erfüllung sozialer Aufgaben ist, die keinen Erwerbszweck verfolgen und die etwaige Gewinne zur Verwirklichung ihres Ziels reinvestieren (unter Verweis auf EuGH, Urteil vom 21. März 2019 – C-465/17. Nach nationalem Recht anerkannte Hilfsorganisationen wie Zivil- und Katastrophenschutzorganisationen seien nicht als „gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen“ im Sinne dieser Vorschrift anzusehen, sofern die Anerkennung als Hilfsorganisation nach nationalem Recht nicht von der fehlenden Gewinnerzielungsabsicht abhänge. Hilfsorganisationen seien nur dann gemeinnützige Organisationen im Sinne des § 107 Absatz 1 Nummer 4 GWB, wenn sie die Voraussetzungen erfüllen, die nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für die Anerkennung als gemeinnützige Organisation oder Vereinigung im Sinne des Artikels 10 Buchstabe h der Richtlinie 2014/24/EU vorliegen müssen. Unter den Begriff der Hilfsorganisationen nach § 107 Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 2 GWB fallen daher nur nach Bundes- oder Landesrecht anerkannte Organisationen des Zivil- oder Katastrophenschutzes, die nicht auf Gewinnerzielung ausgerichtet sind, keinen Erwerbszweck verfolgen und ihren Mitgliedern keine – auch keine mittelbaren – Gewinne verschaffen dürfen. Etwaige Gewinne einer Hilfsorganisation müssen zur Erfüllung ihrer gemeinnützigen Aufgaben verwendet werden.

Die Anwendung der Bereichsausnahme des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB sei in Niedersachsen auch nicht durch Landesgesetz abbedungen worden. Das OLG Celle ließ daher die Frage offen, ob insoweit die Kompetenz zur Regelung der Bereichsausnahme beim Bundesgesetzgeber liege oder ob die Länder die Regelung generell durch Landesgesetz abbedingen könnten.

Die Bereichsausnahme greift zudem bei Direktvergaben an gemeinnützige Leistungserbringer und nicht nur dann, wenn der Träger des Rettungsdienstes einen Wettbewerb im Wege der Ausschreibung eröffnet und auf gemeinnützige Leistungserbringer beschränkt hat.

Die vorgelagerte Entscheidung des Trägers des Rettungsdienstes, kein für gewerbliche Anbieter offenes Vergabeverfahren durchzuführen, sei nicht von den Vergabekammern, sondern von den Verwaltungsgerichten zu überprüfen. Auf Antrag der Antragstellerin hat das OLG Celle daher das Verfahren gemäß § 17a Abs. 2 Satz 1 GVG an das Verwaltungsgericht Lüneburg verwiesen. Immerhin sei denkbar, dass in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren geklärt werden könne, inwieweit die Antragstellerin als gewerbliche Anbieterin von Rettungsdienstleistungen unter Berücksichtigung ihrer betroffenen Grundrechte einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung habe, ob der Träger nur gemeinnützige Anbieter beauftrage oder – abweichend von der Bereichsausnahme – ein für gewerbliche Anbieter offenes Vergabeverfahren durchführe (unter Hinweis auf Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 16. April 2020 – 1 Verg 2/20, Rn. 70, 75).

Bildquellen