Der Europäische Gerichtshof hat über die Bereichsausnahme im Vergaberecht betreffend Rettungsdienste und qualifizierten Krankentransport sowie zur Frage der Gemeinnützigkeit entschieden.

EuGH, Urteil vom 21.03.2019 – Rechtssache C-465/17

Heute vormittag verkündete der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) sein Urteil in der Rechtssache Falck Rettungsdienste GmbH u.a. gegen die Stadt Solingen – Rechtssache C-465/17.

Bereichsausnahme im Rettungsdienst

Bei dem Rechtsstreit geht es um die so genannte Bereichsausnahme. Grundlage für das Verfahren bietet das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB), das im Wesentlichen eine Beauftragung unter der Hand verbieten will. Es fordert die Vergabe in einem öffentlichen und transparenten Verfahren. Zu beachten ist dabei auch europäisches Recht. Dieses regelt das Vergabeverfahren in den Richtlinien 2014/23/EU (Konzession) und 2014/24/EU (Submission)  europaweit einheitlich.

Jedoch können die europäischen Mitgliedstaaten bestimmte Aufträge gemeinnützigen Organisationen vorbehalten, vgl. Art. 77 Richtlinie 2014/14. Zu diesen gesetzlichen Fällen zählen Dienstleistungen des Katastrophenschutzes, des Zivilschutzes und der Gefahrenabwehr. Sie sind also vom Bereich der Vergabe ausgenommen. Daher der Begriff Bereichsausnahme. Davon hat der deutsche Gesetzgeber mit § 107 Abs. 1 GWB Gebrauch gemacht. Dazu stellten sich drei wesentliche Fragen.

Rettungsdienst als Gefahrenabwehr

1. Ist Rettungsdienst Gefahrenabwehr?

Diese Frage bejahte der EuGH. Die Betreuung und Versorgung von Notfallpatienten in einem Rettungswagen falle unter den Begriff der „Gefahrenabwehr“ im Sinne von Art. 10 Buchst. h der Richtlinie 2014/24. Dabei stellte er jedoch auch klar, dass der Rettungsdienst kein Bestandteil des Katastrophenschutzes ist und auch kein Bestandteil des Zivilschutzes.

Die Gefahrenabwehr werde im europäischen Recht nicht definiert. Auf ein Großschadensereichnis sei – anders als beim Zivilschutz und dem Katastrophenschutz, nicht abzustellen. Die Gefahrenabwehr umfasse sowohl Gefahren für die Allgemeinheit als auch Gefahren für Einzelpersonen (Rz. 30).

Rettungsdienste als Gefahrenabwehr fallen unter die Bereichsausnahme. Wenn die weiteren Voraussetzungen vorliegen, ist ein Vergabeverfahren nach dem GWB nicht erforderlich.

Krankentransport als Gefahrenabwehr

2. Ist Krankentransport Gefahrenabwehr?

Nach Auffassung des EuGH unterfällt der Krankentransport nicht unbedingt die Bereichsausnahme. Denn er sei nur dann Bestandteil der Gefahrenabwehr, wenn Notfallpatienten versorgt würden.

Der EuGH führte hierzu aus, dass die Bereichsausnahme untrennbar mit dem Vorhandensein eines Notfalldienstes verknüpft sei (Rz. 44). Der qualifizierte Krankentransport sei nicht zwingend mit dem Transport von Notfallpatienten gleichzusetzen (Rz. 42). Es genüge auch nicht, dass ein Krankenwagen mit qualifiziertem Personal besetzt sei (Rz. 45). Ein Notfall könne zumindest potenziell vorliegen, wenn ein Patient befördert werden muss, bei dem das Risiko besteht, dass sich sein Gesundheitszustand während des Transports verschlechtert.

Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Bereichsausnahme sei daher, dass der Transport zum einen tatsächlich von ordnungsgemäß in erster Hilfe geschultem Personal durchgeführt wird. Er müsse Patienten betreffen, bei denen das Risiko bestehe, dass sich der Gesundheitszustand während des Transports verschlechtert. Dabei wies das Gericht auch darauf hin, dass die Ausnahmen nicht über das unbedingt notwendige Maß hinaus ausgeweitet werden sollten.

Der normale Krankentransport wird also, jedenfalls wenn er öffentlich-rechtlich durchgeführt wird, ab Erreichen der Schwelenwerte auszuschreiben sein. Die Abgrenzung zur Beförderung von Notfallpatienten wird vermutlich zu weiteren Auslegungsfragen der nationalen Gerichte führen.

Gemeinnützigkeit von Hilfsorganisationen

3. Sind Hilfsorganisationen gemeinnützige Organisationen?

Weitere Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Bereichsausnahme sei die Vergabe an gemeinnützige Organisationen. Dabei beanstandete der EuGH, dass es nach deutschem Recht nicht notwendigerweise darauf ankomme, ob die Hilfsorganisation eine Gewinnerzielungsabsicht verfolgt (Rz. 53).

Die bestehenden Hilfsorganisationen sind bereits kraft Gesetzes anerkannt. Abweichend vom Wortlaut des Art. 10 h) Richtlinie 2014/23/EU (Konzessionsvergabe) und des Art. 10 h) Richlinie 2014/24/EU (Auftragsvergabe) definiert der deutsche Gesetzgeber gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen insbesondere als Hilfsorganisationen, die nach Bundes- oder Landesrecht als Zivil- und Katastrophenschutzorganisationen anerkannt sind. Die Gewinnerzielungsabsicht werde nicht geprüft.

Es obliegt daher den nationalen Gerichten die fehlende Gewinnerzielungsabsicht und damit die Gemeinnützigkeit der Organisationen zu prüfen.

Auswirkungen

Die Auswirkungen sind für jeden Einzelfall individuell zu bewerten.

Im Fall Solingen wird das Oberlandesgericht die Antworten des EuGH seiner Beurteilung zugrunde legen. Die Angelegenheit ist also durch die Entscheidung des EuGH nicht abschließend entschieden. In weiteren anhängigen Verfahren, die einen Bezug zur Bereichsausnahme haben, werden die Gerichte die Entscheidung des EuGH berücksichtigen.

Rettungsdienstträger werden weiterhin in Erwägung ziehen müssen, nach welcher Verfahrensart sie die Durchführenden öffentlich beauftragen. Sie sind an die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, den Vorrang und den Vorbehalt des Gesetzes gebunden. Möglicherweise geben die Rettungsdienstgesetze der Länder Vorgaben zum Auswahlverfahren. Dabei sind die Haushaltsgrundsätze der wirtschaftlichen und sparsamen Mittelverwendung zu wahren. Der Gleichheitsgrundsatz ist zu achten. Verfahrensfehler könnten mit einer Konkurrentenklage vor den Verwaltungsgerichten angegriffen werden.

Zu den Hilfsorganisationen – deren Gewinnerzielungsabsicht im Verfahren zu prüfen ist – könnten sich weitere gemeinnützige Organisationen gesellen. Die jeweiligen Unternehmen der Hilfsorganisationen sollten insoweit ihre Satzungen prüfen. Mittelständische Unternehmer können und sollten in Erwägung ziehen, ihr Unternehmen in die Gemeinnützigkeit zu überführen; das Gesellschaftsrecht bietet einige interessante Gestaltungsmöglichkeiten. Abzustellen ist natürlich stets auf den Einzelfall.

Etwaige Genehmigungsverfahren außerhalb einer Beauftragung – also solche beispielsweise nach Art. 21 Abs. 1 BayRDG oder § 17 RettG NRW – sind von der Entscheidung des EuGH nicht unmittelbar betroffen. Genehmigungen können eine Lösung sein, bestehende Strukturen aufrecht zu erhalten – sollte das jeweilige Recht des Bundeslandes dies zulassen.

Die Gesetzgeber sollten die Entscheidung des EuGH zum Anlass nehmen, ihre Rettungsdienstgesetze zu novellieren. Dabei sollten sie die bestehenden Strukturen auf ihre Aktualität prüfen. Die Bereichsausnahme für sich wird dabei ohne weitere Regelungen weder ein Garant für Rechtssicherheit noch für Qualität sein.